Notizen zur Ästhetik
Reflexion
Ich stand vor der Situation, in der mein akademisches Leben gespalten war; ich konzentrierte mich auf die Suche nach den Antworten auf zwei Fragen, die in entgegengesetzte Richtungen zu führen schienen, nämlich: Was ist die Organisation des Lebendigen? Und: Was findet im Phänomen der Wahrnehmung statt?
Humberto Maturana
Es ist möglich, einem hungrigen Publikum ein menschliches Gehirn zu servieren, um an Hand physiologischer Merkmale komplexe Strukturen zu erörtern. Neben der geistigen Erregung dürfte sich ein weiteres Prinzip behaupten: sinnliche Erfahrung. Und sollte das Hirn noch frisch sein, so können wir es nicht nur sehen und fühlen, sondern auch riechen, schmecken, vielleicht auch hören. In der Summe ist das menschliche Gehirn Gegenstand intellektueller Spekulation und ästhetischer Genuss. Zwei sehr unterschiedliche Seiten manifestieren sich also in ein und demselben Objekt; es fällt jedoch schwer, sie miteinander zu verflechten
Descartes war sich seiner Sache sehr sicher. Mit Hilfe der Formel „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) schien bloßes Sagen und Meinen überwunden. Erst dann, wenn nichts mehr in Zweifel gezogen werden kann, gelten Aussagen und Beschreibungen als wahr – nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Kunst. Die Wahrnehmung wird daher zum Gegenstand geistiger Betätigung. Und genau hier scheiden sich die Geister.
Für René Descartes gilt die absolute Trennung von Seele und Körper. Wie lässt sich dennoch eine Einheit realisieren? Anders gefragt: Wie gelingt es, Emotionen und Gedanken miteinander zu koppeln? Indem empfangende Reize registriert und zum Gehirn weiter geleitet werden. An einem Ort – Descartes erkennt ihn in der Epiphyse (besser bekannt als Zirbeldrüse) – findet die Interaktion statt. Wir haben ein Bild der äußeren Welt.
Die Neurowissenschaft hegt Zweifel; ein Interaktionsort, wie ihn Descartes postuliert, lässt sich nicht finden. In der Überwindung des cartesianischen Dualismus greifen die Physiologen zu anderen Mitteln, um den Vorgang der Reflexion zusätzlich ins rein subjektive zu verlegen. Der Gegenstand „Hirn“ wird also nicht nur als Objekt der Begierde begriffen, sondern ebenso als ein Aktionsmedium, das neue Eigenschaften der Natur hervor treibt. Das Hirn selbst ist ein eigener Kosmos. Wir zeichnen Bilder der inneren Welt. Im Raster dieser Ambivalenz liegt nunmehr der Schlüssel zur Begründung der Neuronalen Ästhetik.
Um zu verstehen, was das Schöne, Hässliche, Erhabene usw. ist, braucht man nur zu verstehen, wie das Hirn funktioniert. Nach Ernst Pöppel malt die Kunst die innere Grammatik des Hirns aus. Kunst greift demnach in die geöffnete Schatulle aller Hirnfunktionen und bedient sich deren Muster. Sie folgt dem geschlossenen Kreislauf der Natur. Von diesem Prinzip her ist das Ästhetische zu verstehen.
Was bleibt dem Künstler? Er hat sich in das Hirn zu denken! Spielarten wie „künstlerische Freiheit“ und „autonomer Geist“ sind Gespinste eines Unverbesserlichen. Das Hirn sagt uns, was in der Kunst richtig und was falsch ist. Entweder kann das Hirn nur beiläufig lächeln, oder es dank mit fröhlichen Blitzen. Der „Einzige und sein Eigentum“ hat ausgedient. Er hat sich, konsequent zu Ende gedacht, an einem Universalhirn zu orientieren
Derartige Gedankenspiele sind nicht fremd. Auch bei Hegel blieb die Freiheit des Subjekts auf der Strecke. Nur das Große und Ganze zählte – die „Absolute Idee“, der „Weltgeist“. Aus ihm heraus flossen Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“, die, statt aufzubegehren, zur Abschreckung mahnten. Das Ästhetische schien bereit, sich abzuschminken.
Humberto Maturana sichert im sozialen System „menschliche Gesellschaft“ dem „Einzigen“ Autonomie. Jedes geschlossenes Netzwerk (Hirn), das sich generiert, sich also „selbst macht“ (Autopoiese), erfreut sich gerade durch den hohen Grad seiner Autonomie einer unabhängige Existenz. Das soziale System ist wiederum angewiesen auf die Kreativität seiner Mitglieder, welche die Entwicklung von Kultur, Kunst und Bewusstsein garantieren.
Eine bedeutsame Aufgabe dieser Entwicklung übernimmt die Sprache in ihren mannigfaltigen Ausdrucksformen. Sprache ist dabei nicht die Übertragung von Informationen (Aufgabe der Kommunikation), sondern die Koordinierung des Verhaltens innerhalb von Bezugssystemen. Eine Familie ist zwar ein durch Blutsverwandtschaft gekennzeichnetes biologisches System, aber auch ein „begriffliches System“, das durch bestimmte Rollen und Beziehungen definiert wird. Hier ergeben sich Unterschiede zu anderen Bezugssystemen, die jeweils ihren „Dialekt“ reden. Eine Familie outet sich als „In-der-Sprache-sein“.
Schmerzlich musste Oedipus nach seiner Rückkehr in die Heimat erfahren, nicht mehr „In-der-Sprache“ des eigenen Stammes zu sein. In der Fremde hatte er eine andere Kultur genossen. Nunmehr war er gefangen in einem Netz von Mythos und Intrigen; es gab für ihn keinen anderen Ausweg, als sich das Augenlicht zu nehmen. Denn Oedipus stand erstarrten Strukturen gegenüber, die eine gemeinsame Sprache unmöglich machten.