via regia

oder Die Lust zu Handeln

VERSUCH EINER POETIK

Vortrag anlässlich des internationalen Kolloquiums:
“Grenzüberschreitungen und Europäische Visionen”
Potsdam, 30. September 2006

 

Wir sind uns unbekannt
wir Erkennenden
wir selbst uns selbst:
das hat seinen guten Grund.
Wir haben nie nach uns gesucht.

Friedrich Nietzsche
Zur Genealogie der Moral

Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 1957 waren die Weichen für die Europäische Wirtschaftsunion gestellt. Heute, fünfzig Jahre später, scheint das Werk vollendet. Der gesamte Kontinent hat sich – bis auf Ausnahmen – zu einem ökonomischen Ganzen vereint. Doch bei dessen Betrachtung fällt die Bilanz nicht positiv aus. Hatte Europa im Zuge seines Werdens häufig mit Grenzräumen und Grenzsituationen zu tun, die dennoch Möglichkeiten offen ließen, alle Richtungen und Wege zu beschreiten, so zeigt sich heute das ganze System als ein Rückfall in die Barbarei. Anstatt die emotionalen und intellektuellen Potentiale zu bündeln, keimten erneut die alten Tugenden individueller und nationaler Egoismen auf. Die Mentalität des Kleinkrämers hat also überdauert. Um dennoch den Schein des Gemeinsamen zu wahren, wurde der EURO als einheitliches Zahlungsmittel eingeführt. Und damit beginnt das eigentliche Problem; denn das einzelne Subjekt ist gänzlich im EURO aufgegangen, es ist unter dem allgemeinen Prinzip EURO subsumiert. Alle Lebensbereiche, alle Lebensqualitäten sind also in Geld gegossen – und der Preis ist nicht verhandelbar. Das moderne Europa wandelt somit auf mittelalterlichen Spuren – denn auch dort galt das Prinzip des Allgemeinen. Nur lagen damals die Seiten des Bewusstseins unter dem Schleier von Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn. Die christliche Mystik koordinierte auch alle Denkformen – bis hin zur Philosophie. Die Philosophie verstand sich selbst als Hure der Theologie. Einzig was zählte, war die Intellektuelle Liebe zu Gott.

nicht anders in der Kunst. Auch sie bemüht sich heute um das Totschweigen von Subjektivität. Die moderne Kunst aalt sich in einer Themenverknappung, die in der ewigen Wiederkehr des Gleichen ruht. Die Stilrichtung heißt: main stream – die billigere Art von Naturalismus. Und dieser beschreibt sich als Postmoderne oder als Post-Post-Moderne, ausgestattet mit einem schizoiden Haschen nach Pikantem und Paradoxem. Dabei steht die moderne Kunst auf sehr dürren, zittrigen Beinen – stets in der Angst, vom Mammon erschlagen zu werden. Diese Absurdität künstlerischen Seins findet den Höhepunkt in der Verwendung von Sprache. Den Sprachschatz auf ein Minimum reduziert, kümmert sie sich eher um die Diktatur sinnloser Schreibregeln als um Kreativität. Sprache heute ist der zusammen geschobene Denkkehricht. Hatte Aristoteles den Menschen seiner Zeit noch als politisches Tier gezeichnet, so dürfte heute der Gebrauch Darwin’scher Definition glücklicher sein: Der Mensch gehört zur Spezies der Schmalnasenaffen. Wie also fällt die Bilanz des modernen Europa aus? Im Sinne von Erich Maria Remarque:
“Im Westen nichts Neues”. (!)

die Frage lautet nun: Wie kommt man aus diesem selbst verschuldeten Dilemma wieder heraus? Welche Inhalte sind zu beachten, die ein Leben in der Moderne erträglich machen?
Eine erste mögliche Antwort liefert uns die Epoche der Renaissance; denn hier wird erstmals wieder das Subjekt ins Zentrum der Intentionen gestellt. So, wie sich einst der Grieche mit seinem Selbstbewusstsein über die Barbaren erhob, ebenso erhebt sich zuerst in Italien das freie Subjekt mit voller Macht über alle Umklammerungen. Es erkennt sich als Gestalter der Welt. Die weitaus größere Leistung der Renaissance ist jedoch, dass sie den vollen Gehalt des Menschen zutage fördert – in der Begründung des Humanismus. Weit über den heutigen Dilettantismus hinausgehend, war der florentinische Kaufmann sowohl Staatsmann als auch Gelehrter, der die beiden alten Sprachen Griechisch und Latein beherrschte. Der Humanist war also stets zur größten Vielseitigkeit aufgefordert. Die objektive Kenntnis der antiken und der mittelalterlichen Geschichte waren für ihn keinesfalls Selbstzweck, sondern sein Wissen hatte in erster Linie der täglichen Anwendung auf das wirkliche Leben zu dienen. Die zweite mögliche Antwort liefert uns demnach das Modell der Vielseitigkeit. Wenn Leon Battista Alberti in seinem Traktat de pictura (Über die Malkunst) von 1438 die Frage nach dem idealen Maler stellt, dann stellvertretend für alle Künste: Als ein idealer Maler galt, wer sowohl die Züge eines beschlagenen, innovativen Ingenieurs aufzuweisen hatte und wer in allen Künsten und vor allem aber in Literatur und Kritik bewandert war. Schlicht: Er musste Humanist sein. Zu diesem neuen Dasein wollte Alberti den Künstler verhelfen, durch Bildung und Erziehung, durch die Formung des Geistes.

was bedeutet das für die Moderne? Einfach: Sie ist angehalten, nach allen Seiten hin Ausschau zu halten und die unterschiedlichsten Ebenen geistiger Betätigung miteinander in Beziehung zu setzen. Und dabei geht es nicht um das Setzen von Prioritäten. Wissenschaft ist ebenso wie Kunst oder Wirtschaft jeweils nur eine Form menschlichen Tuns. Auch Geld spielt dabei nur eine Rolle – und nicht die Rolle. Diese unterschiedlichen Ebenen sind also miteinander zu Verweben, so dass in deren Zusammenspiel Muster entstehen. Es ist, wie wenn man in einem Kuppelsaal von verschiedenen Standpunkten aus Töne singt. Diese Laute sammeln sich genau in einem einzigen Punkt, im Zenit, und werden wie durch Geisterhand mit volle Wucht nach unten geführt. Das entstandene Muster ist ein Grundton oder der Superton – wie ihn die Chaostheorie beschreibt -, ohne dass dabei einzelne Stimmen verschmiert werden. Wir müssen also nicht nach einer einzigen, nach der einzig wahren Weltformel suchen – wie es gegenwärtig die Stringtheorie tut. Entscheidend sind immer die Muster.

aus dieser Perspektive sei nunmehr ein etwas anderer Blick auf die Moderne erlaubt. Und aus dem Blickwinkel der Kunst erscheint Europa plötzlich als Experimentierfeld. Dabei gilt es zunächst nur einen Ausschnitt zu betrachten. Das besondere Interesse gilt dabei dem Thema: EU-Osterweiterung. Denn die in die Europäische Union integrierten Länder wie Litauen, Estland und Lettland bilden heute einen fast vergessenen Lebensraum, den es zu ergründen lohnt. Der Reiz besteht auch darin, da das Baltikum ursprünglich mit dem westlichen Europas verbunden war. Denn zwischen den alten Hansekontoren Brügge (Belgien) und Novgorod (Russland) erstreckte sich eine seit Jahrhunderten für den Austausch von Waren und Informationen genutzte Wegstrecke. Diese via regia verband also Orte und Städte miteinander, um an idealen Schnittpunkten Handel im weiteren Sinne zu treiben. Handeln im Sinne von künstlerischer Tätigkeit bedeutet konkret, an diesen historisch entstandenen Fixpunkten Ausstellungen mit Künstlern aus diesen Osteuropäischen Ländern zu organisieren, mit dem Ziel, verlorene Informationen wieder in den europäischen Gesamtkontext zu stellen. Dabei geht es nicht um ein bloßes Zur-Schau-Stellen von Exponaten, sondern um den Diskurs. Über das Mittel der Kunst soll hierbei die Diskussion um das europäische Gewissen (Trennung der Staatengemeinschaft) angeregt werden. Und es geht um die Wiederherstellung des kollektiven Wissens in Form einer neuen Formulierung europäischer Geschichte.

auch hier, bei diesen Zusammenkünften, soll das Modell Muster greifen – eben im Zusammenspiel aller Genre. Der Aktionsradius umschließt die Künste: Malerei, Bildhauerei, Architektur, Landschaftsgestaltung, Literatur, Film, Theater, Musik und Tanz. So werden zum Beispiel die Inhalte und die Farben der ausgestellten Bilder von der Musik oder vom Tanz “aufgenommen”, um sie an die Literatur oder den Film “weiterzugeben”. Durch Improvisation der einzelnen Mitglieder wird ständig ein Muster, ein offenes, ein Gesamtkunstwerk geschaffen. Und alles ist in Entstehung und Entwicklung begriffen. Jede durchlaufende Station ist ein neuer kommunikativer Anfang. Der Dialog ist gesetzt. Er behandelt zugleich das Wertverständnis von Tradition und Moderne und damit Die Genesis der Europäischen Union.

vielleicht bedarf es für dieses Verständnis eines längeren Atems. Die Zeit sei gegeben. Denn die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug.